Meine heutige Interviewpartnerin Mag.a Christina Beran habe ich Zuge eines Fortbildungs-Webinars kennengelernt. Bereits während der Veranstaltung habe ich mit einige Notizen gemacht, wo und wie sich unsere beiden Schwerpunkte Prokrastination und Weiblichkeit berühren – speziell in Bezug auf Rollenanforderungen, Leistungsdruck und Wohlbefinden. Ich freue mich sehr, Euch heute an dem Gespräch teilhaben lassen zu können, für das ich Frau Mag.a Beran dankenswerter Weise gewinnen konnte. Viel Freude beim Lesen!
fem.me: Sehr geehrte Frau Mag.a Beran, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, um mir ein paar Fragen zu einem Verhalten zu beantworten, das viele von uns kennen und bei manchen vielleicht sogar massiven Leidensdruck erzeugt: Prokrastination, oder auch Aufschiebeverhalten. Studien der Uni Münster legen nahe, dass 98% der Menschen Vorhaben hin und wieder auf die lange Bank schieben. Nur 2% ziehen Vorhaben immer konsequent durch. Das durfte ich, unter anderem, im Zuge der von Ihnen abgehaltenen Fortbildung zum Thema „Prokrastination“ lernen. Wie sind Sie zu diesem Schwerpunkt gekommen?
Beran: Es war ein schöner Zufall. Ich sollte einen Vortrag im Rahmen einer größeren Veranstaltung halten, die das Thema Zeit als großen Übertitel hatte. Da ich genügend Vorlaufzeit hatte, um mich eingehend auf den Vortrag vorzubereiten, bin ich immer tiefer in die Materie eingetaucht. Es war spannend zu erkennen, wie gut sich meine Expertise in Bezug auf Neurowissenschaften, Embodiment, Emotionsregulation, um ein paar zu nennen, im Bereich der Prokrastination wiederfinden und ergänzen. So wurde aus einem Vortrag zum Thema „Zeit“ der Einstieg in dieses Spezialgebiet.
Heute ist Ihre Praxis eine wichtige Anlaufstelle für Menschen, die darunter leiden, unterschiedlichste Dinge immer und immer wieder aufzuschieben. Haben Sie so etwas wie eine*n typische*n Klient*in?
Der Großteil meiner Klient*innen sind Männer, die mich wegen ihres Aufschiebeverhaltens im beruflichen Kontext aufsuchen. Oder Student*innen, die kurz vor Ihrem Uniabschluss stehen und mit Ihren wissenschaftlichen Arbeiten nicht weiterkommen. Dieses spezielle Charakteristikum meiner Klienten erklärt sich daraus, dass ich mit dem letztgenanntem Bereich einige Erfahrung habe und deshalb gerne von Personen aufgesucht werde, die wissenschaftliche Arbeiten verfassen müssen. Zumeist handelt es sich auffallend oft um sehr begabte oder gar hochbegabte Menschen, die jahrelang mit einer „Auf-den-letzten-Drücker“-Taktik durchgekommen sind. Aber irgendwann lassen das die Rahmenbedingungen und die Menge der Aufgaben nicht mehr zu. Ihre Methode funktioniert nicht mehr und ein großer Leidendruck setzt ein. Ebenso eine Einsamkeit, weil sich die wenigsten mit diesem Problem nach Außen wenden. Meist versuchen meine Klient*innen an diesem Punkt, die Prozesse zu optimieren und an einem effektiveren Zeitmanagement zu arbeiten. Aber Prokrastination ist vielmehr ein Emotionsregulationsproblem als ein Zeitmanagementproblem.
Und damit sind wir eigentlich auch schon bei einer der vermutlich wichtigsten Informationen in Bezug auf Aufschiebeverhalten. Können Sie das bitte etwas ausführen? Wie kommt es dazu, dass wir Dinge aufschieben?
Beim Entstehen von Aufschiebeverhalten spielen – neben mangelnder oder unrealistischer Planung und Probleme in der Prioritätensetzung – unter anderem das ganze neurologische Netzwerk, Erfahrungslernen, negative Emotionen wie Abneigungen gegen die Aufgabe oder Angst vor Versagen oder Kritik und Schwierigkeiten in der Abgrenzung gegen alternative Handlungstendenzen eine wichtige Rolle. Der Emotionsregulation wird hier ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Wir wollen antizipierte unangenehme Gefühle vermeiden und schieben die aus unserer Sicht für das mögliche negative Befinden verantwortliche Handlungen auf. Obwohl wir wissen, dass es negative Folgen hat, wenn wir Aufgaben unerledigt lassen, können wir uns nicht überwinden, diese anzupacken. Das geschieht hauptsächlich deshalb, weil mit dem negativem Mood, der mit den Aufgaben in Verbindung gebracht wird nicht entsprechend umgegangen werden kann. Doch der Versuch, negative Emotionen durch Aufschieben zu vermeiden, führt erst recht wieder dazu, dass wir schlussendlich eben diese empfinden. Es handelt sich also um sehr komplexes Zusammenspiel aus unterschiedlichen Faktoren. Hier gilt es, mit Expert*innen auf die Suche nach dem Ursprung des Verhaltens und passenden Ansatzmöglichkeiten zu gehen.
Ich möchte gerne das Erfahrungslernen herausgreifen. Die Bilanz von Absicht und Handeln, Intention und Umsetzung in der Vergangenheit ist ausschalgebend für unser künftiges Verhalten. Wenn wir uns beispielsweise regelmäßig selbst belügen und sagen „Ab morgen, da werde ich …“, um dann doch wieder nicht mit unserem Vorhaben starten: glauben wir uns dann immer weniger und Prokrastination wird häufiger? Wenn ja, was können wir dagegen tun?
Jedes wiederholte Verhalten bedeutet, dass die Pfade im Gehirn ausgebaut werden. Unser Gehirn lernt, anhand dessen, was wir besonders oft machen. Wenn wir uns selbst beibringen, das Aufschieben unsere Lösung ist, indem wir es immer wieder tun, werden wir das auch in Zukunft immer wieder einsetzen. Ebenso lernen wir, welche Emotionen meist mit bestimmten Ereignissen, Gegebenheiten, Aufgaben etc. in Verbindung stehen. So bekommen wir ein „Bauchgefühl“ für diese. Bauchgefühle sind mühelos, unbewusst, automatisiert und schnell. Zum Unterschied von Handlungen, die bewusst und reflektiert ausgeführt werden müssen und dabei Aufmerksamkeit und somit Energie erfordern. Das Denken hat einen Einfluss auf unseren Körper und unsere Emotionen und der Körper wiederum auf unser Denken und unsere Emotionen. Ein komplexes, zirkulares System.
Was ich heraushöre, ist, dass wir in Bezug auf Aufschiebeverhalten lernen müssen, dem Bauchgefühlnicht das Ruder zu überlassen, wenn es um das Anpacken von mit negativen Emotionen verbundenen Aufgaben geht. Denn das schreit ja schneller „STOP! Mag ich nicht, mach ich nicht.“ Bewusst kann man sich sagen „Aber denk doch mal nach. Es ist doch sinnvoller, das heute anzupacken, als es ewig vor dich herzuschieben. Es erledigt sich nicht von allein und so schlimm ist es ja auch gar nicht. Spätestens morgen denkst du wieder daran und ärgerst dich. Das raubt mehr Energie, als es gleich zu machen.“ Keine leichte Sache. Doch sie kennen ja unzählige Ansatzpunkte. Verraten Sie uns Ihre Lieblingsinterventionen?
Eine Intervention, die so gut wie immer funktioniert, ist die sogenannte Salamitaktik. Hierbei geht es darum, ein Vorhaben in möglichst kleine Scheiben zu zerteilen. Es ist essentiell, die Größe der Scheiben so anzusetzen, dass sie klein genug sind, um sie auch wirklich zu bewältigen und groß genug, um zu motivieren. Ebenso wichtig ist es jede geschaffte Scheibe zu zelebrieren! Überhäufen Sie sich mit Lob und Freude, sodass das Umsetzen mit positiven Emotionen aufgeladen werden kann. Das macht Lust auf mehr und motiviert weiterzumachen und die Scheiben können Stück für Stück größer werden.
Das heißt, wir müssen auch lernen, es – zumindest zu Beginn – langsamer oder bedachter anzugehen. Eine wahre Herausforderung in einer Welt, in der alles immer schneller wird. Ich habe in meinen Gesprächen und auch persönlich gemerkt, dass Reduktion – unter anderem von Aufgaben und Erwartungen – ein toller und vielfältiger Ansatz sein kann, um Ruhe und gleichzeitig Energie zu tanken – ein Beispiel ist hier das Dopaminfasten. Spielt das auch bei Prokrastination eine Rolle?
Ja, denn es bedeutet, zu lernen, auf schnelle Belohnungen zu verzichten. Und genau das ist es, was uns so leicht von den weniger positiv empfundenen Aufgaben abhält. Sowohl die Belohnung in Form des kurzfristig angenehmen Gefühls, eine ungewollte Aufgabe nicht zu machen, als auch das Wohlgefühl, wenn wir statt eben dieser Aufgabe etwas anderes, positiver besetztes machen.
Ein Ansatz um Vorhaben auch tatsächlich umzusetzen und nicht ins Aufschieben zu verfallen, ist das Herstellen von Nähe zum zukünftigen ICH. Was können wir uns darunter vorstellen und wie funktioniert das?
Studienergebnisse legen nahe, dass je weiter eine Entscheidung oder Handlung zeitlich entfernt ist (oder geschoben wird), umso größer ist auch die psychologische Distanz. Fast als als beträfe mich eine Entscheidung in der Zukunft nicht.
Ich bin ein Fan davon, auch vordergründig negativen Dingen etwas Positives abzugewinnen. Was könnte das bei Prokrastination sein?
Aufschiebeverhalten kann zum Anlass genommen werden, um zu reflektieren, welche Faktoren in unserem Leben eben dieses Verhalten fördern. Halsen wir uns zu viel auf, haben wir zu wenig Unterstützung, fehlt uns die Fähigkeit, mit negativen Emotionen umzugehen? Um dann an diesen Punkten anzusetzen.
Und genau das machen Sie auch in Ihrer Praxis: Sie suchen nach den Ursachen und Ansatzpunkten und helfen Ihren Klient*innen, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren und zu verstehen. Was passiert im Regelfall, wenn Klient*innen bei Ihnen in die Praxis kommen?
In jedem Fall ist eine ordentliche Diagnostik und Differentialdiagnostik zu Beginn unabdingbar. Es gilt, sicherzustellen, ob dem Verhalten möglicherweise eine andere, primäre Störung zugrunde liegt, beispielsweise Depressionen, Angststörungen, ADHS oder bestimmte Persönlichkeitsakzentuierungen. Sollte dies der Fall sein, kann auch eine professionsübergreifende Behandlung notwendig werden. Wenn das Hauptthema das Aufschiebeverhalten ist, geht es darum, herauszufinden, WO genau im Prozess zwischen Wünschen/Abwägen, Wollen/Planen und Handeln die Emotionsregulation fehlschlägt und wo damit unsere Ansatzpunkte liegen können.
Die Suche nach der zugrundliegenden Ursache bzw. den möglichen Ansatzpunkten ist sicher immer spannend und das Ergebnis von Klient*in zu Klient*in unterschiedlich. Aufgrund meiner Spezialisierung auf das Thema Weiblichkeit interessiert mich besonders, ob Sie Gründe ausmachen können, die speziell Frauen* dazu veranlasst, in Ihre Praxis zu kommen?
Frauen kommen zumeist wegen Überlastung oder Überforderung durch Mehrfachbelastungen sowie einem enormen Erwartungsdruck in meine Praxis. Die meisten meiner weiblichen Klientinnen leiden unter der Vielzahl und dem Gewicht der Erwartungen, die sie selber an sich stellen oder die sie als von außen auferlegt empfinden. Hier ist der Ansatzpunkt oft auch im Außen zu finden, z.B. durch das handfeste Abgeben bestimmter Aufgaben an den*die Partner*in, Kinder, Eltern oder Freunde. Vielen fällt das unheimlich schwer, denn sie wollen alles und alleine schaffen. Diesen Frauen hilft es, wenn sie in mir jemanden haben, die Ihnen gewissermaßen „verschreibt“, Dinge abzugeben und Unterstützung einzufordern. Ich sehe immer, wie erleichtert meine Klientinnen sind, wenn ich es bin, die Ihnen sagt, dass sie mehr als genug machen und sind. Und das Zuviel einfach Zuviel ist. Es geht dabei meistens um sehr hohe Ansprüche. Genau hier liegt übrigens auch oft ein erster Ansatzpunkt: zu schauen, was von unseren Tätigkeiten denn tatsächlich ein MUSS ist. Zu erkennen, dass das wenigste eben ein solches ist und in weiterer Folge zu entscheiden, was guten Gewissens delegiert oder weggelassen werden kann.
Ein ganz großer Punkt, den ich in meinen Gesprächen auch begeistert bearbeite. Apropos: Was begeistert Sie an Ihrem Tun am meisten?
Menschen zu begleiten und außerdem herauszufinden, was wirklich hilfreich ist.
Zum Abschluss habe ich noch drei Punkte zu meinem Schwerpunkt „Weiblichkeit“. Darf ich Sie bitten, den folgenden Satz zu ergänzen: „Weiblichkeit ist für mich…“
Intelligenz.
Was können Sie der Beschäftigung mit dem Thema Weiblichkeit abgewinnen oder ist es ein Thema, das in Ihnen eher keine Resonanz erzeugt?
Ich sehe mich als selbstverständlich weiblich und bin immer wieder verwundert, dass dieses Selbstverständnis nicht bei allen Frauen und auch Männer vorhanden ist. Für mich besteht eine klare Gleichwertigkeit zwischen den Geschlechtern, Frauen sind keine Männer zweiter Klasse. Für mich gibt es auch keine Diskussionen, wenn Frauen nicht gleichwertig behandelt werden. Das stößt bei mir auf absolutes Unverständnis. Ich kann mich an eine Situation erinnern, die mich atmosphärisch in die Atmosphäre der 50er Jahre versetzt hat, in der ich deutlich gemerkt habe, dass ich als Frau die anwesenden Männer irritiere, indem ich entspannt und selbstverständlich meine Meinung kundtue. Als wäre das etwas Ungewöhnliches, was für mich eine Selbstverständlichkeit ist. Weiblichkeit ist für mich daher auch entspanntes Selbstverständnis.
Wo sehen Sie die Berührungspunkte unserer Schwerpunkte, also zwischen der Beschäftigung mit Weiblichkeit auf meiner Seite und Prokrastination auf Ihrer Seite?
Unsere Berührungspunkte sehe ich ganz stark in der Life-Domain-Balance. Die Frage ist, wo wir unter den aktuellen Rahmenbedingungen, z.B. der Digitalisierung, Home-Office und Co., unsere Erholung hergekommen. Und das gilt speziell für Frauen. Es bedarf eines klaren Paradigmenwechsels, eines echten Change, denn für „sanfte Weiterentwicklung“ passt der Rahmen einfach nicht mehr. Wir müssen anfangen, viele Dinge neu zu denken. Und wir müssen anfangen, unsere Bedürfnisse immer wieder neu zu entdecken, zu ordnen und zu schauen, welcher unserer Lebensbereiche gerade besondere Aufmerksamkeit braucht und wo wir im Moment getrost oder dringend einsparen können. Bedürfnisse wollen erfüllt werden. Um diese zu erfüllen, müssen wir sie allerdings erkennen und lernen, wieder mehr auf uns und unseren Körper zu hören.
Sehr geehrte Frau Mag.a Beran, ich nutze diese Sätze gleich als Abschluss unseres Gespräches, denn sie sprechen mir aus dem Herzen. Vielen lieben Dank für Ihre wertvolle Zeit und die vielen Informationen und Einblicke in Ihr Tun!
Für alle, die es interessiert, hier der Link zum Selbsttest der Uni Münster zum Aufschiebeverhalten: https://ww3.unipark.de/uc/Selbsttest_Prokrastination/ospe.php?SES=7a963f0e8853028116e555a1dcb1c40e&syid=719265&sid=719266&act=start
Alles Liebe,
Eure
Esther