Meine heutige Interviewpartnerin Prof.in Doz.in Mag.a Dr.in Kathrin Kirchheiner ist das, was ich eine taffe, weibliche Powerfrau nenne. Sie ist Leiterin einer psychoonkologischen Ambulanz, international tätige Wissenschaftlerin und leidenschaftliche Schokoladenesserin (gut, letzteres hat wohl kaum etwas mit ihrer Frauenpower zu tun, aber wer sie mal live erlebt hat, wie sie aus der Rosinenübung eine Schokogenussübung macht, die/der würde auch diesen Definitionsteil durchgehen lassen.) Mit Ihrer Auseinandersetzung mit weiblicher Sexualität ist sie gleichermaßen Leuchtturm und Rarität (oder „bunter Hund“, wie sie es nennen würde) im medizinisch-universitären Setting und klarer Gegenpart zu sonstigen, „trockeneren“ Forschungsarbeiten. Auch wenn Ihre Arbeiten vor allem auf Kongressen durchaus kritisch beäugt werden, sind die Vortragssäle immer bis auf den letzten Platz (oder sogar darüber hinaus) gefüllt.
fem.me: Gleich vorweg, vielen herzlichen Dank für die Zeit, die Sie sich trotz Ihres vollen Terminkalenders für unser Interview nehmen. Ich starte deshalb gleichmal los: Wie kamen Sie beruflich zum Thema Sexualität mit dem Fokus auf Frauen?
Kirchheiner: Ich kam eher indirekt über meine Arbeit mit Frauen mit und nach gynäkologischen Krebserkrankungen zu diesem Schwerpunkt. Die meisten Patientinnen, die zu mir kommen, haben Operationen, Chemo- und Strahlentherapie hinter sich, wobei die Nebenwirkungen einen Einfluss auf viele Aspekte ihrer Lebensqualität haben können, unter anderem auch auf die Sexualität. Direkt nach der Behandlung ist das allerdings noch kein Thema, da steht das Überleben im Vordergrund, die Sorge ob der Tumor auch vollständig beseitigt werden konnte, ob ein Weiterleben wie vorher möglich ist usw. Dann drehen sich die Gesprächsthemen eher um die Bewältigung des Alltags, gerade wenn kurz nach der Behandlung der Darm und die Blase noch in Mitleidenschaft gezogen sind, Patientinnen erschöpft und kraftlos sind. Und erst mit der Zeit, wenn sich wieder eine Form von Alltag, Kontinuität und Selbstverständlichkeit im Sein entwickeln, kommt dann langsam das Thema der Sexualität auf. Und ich merke schon auch immer wieder eine gewisse Erleichterung, wenn dieses heikle Thema vom Behandlungsteam angesprochen wird.
Wie und mit welchen Anliegen kommen Frauen zu Ihnen in die Ambulanz?
Wir versuchen unsere gynäkologischen Patientinnen nach der Strahlentherapie zu mir zu leiten, um Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung von langfristigen Nebenwirkungen in der Scheide anzuwenden. Dabei wird das Thema der der Sexualität zuerst gar nicht besonders in den Vordergrund gestellt, weil es eben oft dafür noch viel zu früh ist. Nach einer Bestrahlung kann es nämlich – je nach Dosis und Bestrahlungsgebiet – akut zu kleinen Verklebungen in der Scheide kommen, die regelmäßig gelöst werden müssen, um die Scheide durchgängig zu halten. Das kann ansonsten nicht nur beim Sex schmerzhafte Auswirkungen haben, sondern auch bei gynäkologischen Nachsorgeuntersuchungen, wenn der Arzt/die Ärztin die Spekula einführt. Langfristig kann es als Nebenwirkung der Bestrahlung auch dazu kommen, dass sich die Vagina verkürzt, verengt und das Gewebe generell nicht mehr ganz so elastisch ist. Regelmäßiges Dehnen der Scheide ist notwendig, das verhindert diese kleinen Verklebungen nach Entzündungen und in Folge auch, dass es zu richtiggehenden Verwachsungen kommt und die Scheide sich zusammen zieht. Zum Dehnen bekommen unsere Patientinnen sogenannte Dilatatoren, das sind im Endeffekt Medizinprodukte aus Hartplastik, die wie Dildos aussehen und in unterschiedlichen Größen zusammengestellt sind. Ich erkläre also den Patientinnen die möglichen Nebenwirkungen in der Scheide und was sie selber dagegen tun können. Dazu gehören auch lokale Maßnahmen wie Spülungen, Vaginalcremes um das Gewebe elastisch zu halten und Gleitmittel beim Dehnen der Scheide. Da liegt das Thema der Sexualität dann nach einiger Zeit nahe.
Auf der anderen Seite werden mir auch Patientinnen zugewiesen, welche bereits Jahre nach der Strahlentherapie sind und in der medizinischen Nachsorge über sexuelle Funktionsprobleme berichten. Das beginnt bei Unzufriedenheit durch mangelnde Lust, also einer reduzierten Libido, aber auch Schwierigkeiten zum Höhepunkt zu kommen, herabgesetzte Erregbarkeit und allen voran: Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, insbesondere wenn sich die Scheide bereits verkürzt und/oder verengt hat.
Sie sind als Leiterin einer psychoonkologischen Ambulanz sowohl klinisch als auch international wissenschaftlich tätig – zwei Welten, die sich gut ergänzen?
Das Schöne an meinem Job ist, dass mich die klinische Arbeit mit Patientinnen immer wieder vor neue Fragen und Problembereiche stellt, die ich dann in der Forschung bearbeiten kann. Andersrum fließen die Erkenntnisse aus meinen wissenschaftlichen Arbeiten wieder direkt in die klinische Praxis mit Patientinnen zurück. Und als Wissenschaftlerin kommt man auch in den Genuss, auf vielen Kongressen auf der ganzen Welt präsent zu sein und so auch von tollen Arbeiten der Kolleg*innen auf dem Gebiet lernen zu dürfen. Und ich versuche, dieses Wissen dann auch zu Hause an der Med Uni den Studierenden weiterzugeben.
Ein Beispiel: Als Psychologin kann ich Patientinnen ja nicht gynäkologisch untersuchen, also waren für mich vaginale Nebenwirkungen früher immer etwas Abstraktes, ich hab mir darunter schwer etwas vorstellen können. Aus diesem Grund habe ich mit Kolleg*innen 2012 bereits ein Forschungsprojekt durchgeführt, bei dem wir mittels Endoskopien die Gewebeveränderungen in der Vagina quasi in Nahaufnahme und aus unterschiedlichen Winkeln fotografiert haben. Anhand dessen haben wir einen richtigen „Foto Atlas“ der vaginalen Nebenwirkungen erstellt, der bis heute verwendet wird und extrem praktisch ist in einer Sexualberatung [Kirchheiner et al. 2012]. Manchmal zeige ich die Vaginoskopie Bilder auch meinen Patientinnen, um ihnen Zusammenhänge besser erklären zu können. Plötzlich ist es dann viel nachvollziehbarer, warum es beim Eindringen des Penis oder von Fingern zu leichten Blutungen kommen kann, wenn sie Fotos von den erweiterten Blutgefäßen in der Scheide sehen. Und allein dieses Verstehen, dieses Wissen kann schon für Erleichterung und Entängstigung sorgen.
Mir hat diese enge Zusammenarbeit mit den Mediziner*innen immer sehr geholfen, körperliche und psychische Zusammenhänge besser zu verstehen und zu integrieren.
Und noch ein Vorteil der Kombination aus Wissenschaft und Klinik fällt mir ein: Sobald Patient*innen die Universitätstitel vor meinem Namen sehen und ich gleichzeitig über Sexualität ganz selbstverständlich und alltagsnah spreche, scheint es einfacher zu sein, Tabus zu überwinden. Das wirkt quasi wie eine Legitimierung des Themas und reduziert ein wenig die Unsicherheit und Hemmschwelle.
Kommt in Ihren Therapien das Thema Weiblichkeit direkt zur Sprache? Wenn ja, gibt es Muster, die Sie erkennen, wann die eigene Weiblichkeit besonders in den Fokus zu rücken scheint?
Das Thema Weiblichkeit kommt bei vielen Patientinnen zur Sprache, weil Operationen und Bestrahlungen zunächst einmal drastische Eingriffe in die körperliche Integrität darstellen. Und gerade im gynäkologischen Bereich müssen da auch Grenzen der Intimität verletzt werden. Manche Patientinnen erleben diese Eingriffe durchaus traumatisch. Ich habe dazu 2014 eine Forschungsarbeit veröffentlicht, dass die Innenbestrahlung (die sogenannte Brachytherapie) in über 40% der Gebärmutterhalskrebs Patientinnen eine posttraumatische Belastungsstörung nach sich gezogen hat [Kirchheiner et al. 2014]. Durch dieses Projekt konnten wir dann den Ablauf und das Setting der Innenbestrahlung bei uns an der Klinik so verändern, dass der Eingriff heute deutlich besser psychisch verarbeitet wird.
Dazu kommt, dass die Krebstherapien bei gynäkologischen Tumoren Organe beeinträchtigen, die körperlich für das Frausein und Weiblichkeit stehen, wie beispielsweise die Eierstöcke, die Gebärmutter und die Scheide.
Auch bei Fertilitätsthemen spielt Frausein eine Rolle. Unsere jüngeren Patientinnen kommen nach den Behandlungen meist schlagartig in den Wechsel, ohne Übergangszeit, in der sich der Körper an die hormonelle Umstellung anpassen kann, mit allen entsprechenden postmenopausalen Symptomen. Das beginnt bei heftigen Schweißausbrüchen und kann bei Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen oder sogar Depressionen enden. Und sie können auf natürlichem Wege keine Kinder mehr bekommen. Viele Frauen fühlen sich dann, nach dem Wechsel oder ohne Fortpflanzungsfähigkeit, plötzlich nicht mehr als vollwertige Frau. Das ist eine unglaubliche Belastung für den Körper, aber auch die Psyche leistet hier Schwerstarbeit. Viele Patientinnen berichten, sich weniger attraktiv zu fühlen, weniger weiblich und mit ihrem Körper unzufrieden zu sein [Kirchheiner et al. 2016]
Unterscheidet Sie in der Therapie zwischen „eine Frau sein“ (biologisch) und Weiblichkeit?
Ehrlicherweise ist mir die Unterscheidung zwischen Weiblichkeit und Frausein in diesem Moment zu abstrakt, daher nein.
Mein Slogan: „Erfolgsfaktor Weiblichkeit“? Was verstehen Sie darunter? Was können Sie der Idee abgewinnen, was widerspricht aus Ihrer Erfahrung der Idee, dass Weiblichkeit ein Erfolgsfaktor sein kann?
Weiblichkeit und Erfolgsfaktor – Ich habe mich vor diesem Gespräch noch nie so genau mit dieser Thematik auseinandergesetzt, für mich ist das ganz schwer greifbar. Mehr noch, die 2 Worte passen für mich nicht ganz zusammen. Als ich den Slogan zuerst durchgelesen habe, hatte ich sofort eine Abwehrhaltung und den Gedanken „Um Himmels willen, was ist denn das für ein Thema.“
Es liegt wohl an meinem Tätigkeitsfeld als Wissenschaftlerin. Ich arbeite in einer Domäne, in der starkes Hierarchiedenken und auch Machtspiele an der Tagesordnung sind und auch Wettbewerb sehr gefördert wird. Daher löst dieser Slogan eigentlich sogar Unbehagen aus. Als würde ich mit „Weiblichkeit“ Erfolg haben, anstatt mit harter Arbeit.
Mit dem Wort „Weiblichkeit“ kommt mir auch eine weitere Assoziation in den Sinn. Und zwar, dass ich als ziemlich unweiblich gesehen werde, weil ich nie Kinder haben wollte. Ich sehe mich wiederholt konfrontiert mit dem Klischee, ich hätte wegen einer Karriere auf Kinder verzichtet, also quasi etwas „geopfert“. In Wahrheit ist es umgekehrt: Dadurch, dass eine konventionelle Familiengründung für mich nie in Frage gekommen ist, hatte ich wesentlich mehr Zeit und Energie zur Verfügung, um mir eine wissenschaftliche Karriere aufzubauen, die mir Freude macht und mein Leben bereichert. So ist zumindest ein Nachteil weggefallen, den das Frausein im Berufsleben und vor allem im wissenschaftlichen/universitären Kontext hat.
Das heißt, es gibt für Sie keine Weiblichkeit im wissenschaftlichen Kontext?
Für mich ist das ganz normal und war nie ein Thema. Weiblichkeit nicht in den Vordergrund zu stellen, sondern Inhalte und Projekte, ist für mich notwendig, um im Job ernst genommen zu werden. An der Universität braucht es Professionalität. Gerade aufgrund meines Themenschwerpunktes „Sexualität“. Da würde es für mich gar nicht passen, Weiblichkeit überzubetonen, das würde mich auch angreifbar und verletzlich machen. Das Thema kann nach wie vor bei Kollegen schwierige Reaktionen hervorrufen, das beginnt bei Verächtlichkeiten und hört bei sexuell anzüglichen Kommentaren auf. Das heißt, auf einem wissenschaftlichen Kongress ist ein sachlicher, zurückgenommener, neutraler Stil im Vordergrund um nicht von den Ergebnissen abzulenken.
In Workshops für Kliniker*innen (speziell Psycholog*innen) bin ich natürlich auch viel lockerer und offener und bringe mich selbst als Mensch mehr ein.
Aber ich denke ich könnte keine gute klinisch tätige Psychologin sein, würde ich mich nicht in meiner Sinnlichkeit und Weiblichkeit wohl und verankert fühlen. Sinnlichkeit ist generell ein Must-Have. Dieses Wort löst auch viel weniger negative Emotionen aus als Weiblichkeit. Da haben Sie mich heute wohl auf einen blinden Fleck aufmerksam gemacht.
Das heißt, Sinnlichkeit ist Ihre Weiblichkeit und sie leben Sie privat und in der Therapie, aber nicht im wissenschaftlichen Kontext?
So ungefähr kann man es vielleicht sagen.
Sinnlichkeit ist generell ein großes Thema?
Absolut, Sinnlichkeit (wieder) zu entdecken und bewusst zu leben, ist ein zentrales Thema in jeder Sexualtherapie. Und dabei ist es egal ob mit oder ohne Partner*in, sondern es geht um die Themen von Selbstzuwendung, Achtsamkeit und Selbstbestimmung. Auch darum, eine gute Routine zu finden, in der man sich selbst sinnlich begreifen kann. In Bezug auf Sexualität spielt dabei auch Selbstbefriedigung eine wichtige Rolle und ist aus sexualtherapeutischer Sicht nicht wegzudenken.
Aber wird Selbstbefriedigung nicht immer noch tabuisiert – auch, oder besonders in Beziehungen?
Ja, es gibt immer noch viele Paare, die Sexualität nur als Geschlechtsverkehr „Penis-in-Vagina“ definieren. Und Sorge haben, dem Partner oder der Partnerin sexuelle Energie wegzunehmen, wenn sie sich ihrem eigenen Körper zuwenden. Da stecken viele Tabus dahinter, auch die Sorge nach indirekter Kritik an den sexuellen Fertigkeiten des Partners / der Partnerin. Oder die Sorge als egoistisch wahrgenommen zu werden.
Aber Selbstbefriedigung macht selbstbewusst. Sowohl im wortwörtlichen, sich selber bewusst zu spüren, als auch im übertragenen Sinne. Das Kennenlernen des eigenen Körpers und der eigenen Wünsche und Bedürfnisse ist essenziell für eine erfüllte Sexualität.
Ich habe Patientinnen nach einer Strahlenbehandlung in Sexualtherapie, bei denen penetrativer Geschlechtsverkehr einfach nicht mehr möglich ist, weil sie z.B. eine zu kurze Vagina haben, um den Penis aufzunehmen. Da hat zum Beispiel gegenseitige Selbstbefriedigung einen hohen Stellenwert, also den Partner oder die Partnerin im Arm zu halten, Nähe und körperlich innigen Kontakt herzustellen, wenn er oder sie sich selbst befriedigt.
Es gibt ja auch Phasen, in denen uns körperliche Nähe in Form von Umarmungen oder Kuscheln reicht und Sex, in welcher Form auch immer, gerade nicht gewollt wird. Gibt es „Lustschwankungen“, die durch den Zyklus bedingt und wahrnehmbar sind, z.B. mehr Lust beim Eisprung?
Die Lust kann bei Frauen ganz unterschiedliche Schwankungen im Verlauf des Zyklus haben. Manche sind besonders lustvoll um den Eisprung herum, andere wiederum während der Menstruation. Das ist individuell unterschiedlich und daher gibt es keine zyklisch-bedingten „Standardlustschwankung“. Bei sich selbst kann jede Frau aber durchaus spezifische Muster erkennen – dazu kann die eigene Lust einfach über mehrere Zyklen hinweg beobachtet werden.
Wie stehen Sie zu eigenen Grenzen: sollte man sich auch im Bereich der Sexualität einmal außerhalb seiner Komfortzone bewegen?
Ein Hauptsatz, den Patientinnen immer wieder zu hören bekommen, ist: „Sexualität ist ein Lernprozess, also veränderbar und kann sich ein Leben lang entwickeln.“ Auch sexuelle Wünsche, Phantasien und Abneigungen können sich verändern. Vielleicht ist etwas, dass ich vor Jahren ausprobiert und für schlecht empfunden habe, jetzt auf einmal wieder spannend und interessant. Deshalb kann es ratsam sein, seine eigenen Komfortzonen auch beim Sex gelegentlich zu verlassen und Grenzverschiebungen zu ermöglichen. Dieses Experimentieren und die Aufregung etwas Neues, Anderes auszuprobieren, kann auch die Libido steigern. Gerade in langfristigen Beziehungen, in denen man den Partner oder die Partnerin schon „in und auswendig kennt“ und Sexualität nach einem bestimmten Skript abläuft. Es ist immer aufregend, so einen festgeschriebenen Ablauf ein wenig durcheinander zu bringen und gemeinsam neue Erfahrungen zuzulassen. Dabei ist es wichtig, als Paar eine gute sexuelle Kommunikationsbasis zu haben, damit man Grenzverschiebungen vorab besprechen kann. Gerade in langjährigen soliden Beziehungen kann es da wieder aufregend werden, wo sich der Partner / die Partnerin in seiner oder ihrer Rolle anders zeigt und anfühlt. Dieses „einander wieder ein bisschen fremd sein“, statt der bekannten und vertrauten Sexualität.
Sexuelle Phantasien vom Fremdgehen, von anders-orientiertem Sex, vom Beobachtet-werden oder Beobachten, von Gewalt. Was ist einfach Phantasie, was ist Wunsch, bzw. wie kann man das unterscheiden? Wann hat meine Phantasie oder mein Wunsch Einfluss auf meine Partnerschaft?
Der Unterschied zwischen Wunsch und Phantasien ist relativ einfach. Sexuelle Wünsche wollen mehr oder weniger bewusst aktiv ausgelebt werden. Eventuell traut man sich noch nicht ganz, sie auszusprechen oder man ist sich noch nicht ganz so sicher ob die Umsetzung dann auch wirklich der Erwartungshaltung entspricht, aber man kann sich das Erleben eines sexuellen Wunsches im echten Leben vorstellen und findet den Gedanken daran anregend.
Sexuelle Phantasien hingegen sind erregende Vorstellungen, die nur im eigenen Kopf ablaufen und auch dortbleiben dürfen. Phantasien dürfen auch sexuelle Aktivitäten, Praktiken usw. umfassen, von denen man sogar auf gar keinen Fall möchte, dass sie einem im echten Leben auch wirklich widerfahren. Bei sexuellen Phantasien wird also nicht unbedingt von der Umsetzung geträumt, aber die Vorstellung alleine ist erregend. Das verunsichert viele Frauen.
Apropos Verunsicherung: Welchen Einfluss haben Pornos auf uns Frauen/ unser Körperbild/ unseren Sex?
Pornos werden zu einem immer schwierigeren Thema, weil extreme Sexualpraktiken in der Mainstream Pornographie weit verbreitet sind und damit unbewusst als gang und gäbe angesehen werden. Es ist eine Phantasiewelt, die mit der Sexualität im Alltag nur wenig zu tun hat. In Pornos werden meistens so bodenständige Aspekte von Nähe, Intimität, Erregungsmuster von Männern und Frauen, Gesundheit, Verhütung, Kommunikation und Konsens komplett ausgeklammert. Das Motto lautet oft: Intensität statt Intimität, je extremer, je intensiver, je härter, umso besser. Das ist eine riskante Botschaft! Vor allem gegenüber Jugendlichen in ihrer sexuellen Entwicklung. Viele Sexualpraktiken, die in Pornos ausgelebt werden, werden dann vielleicht zur Norm erklärt, zur Selbstverständlichkeit des sexuellen Alltags, „Das machen doch alle. Das gehört doch dazu, das ist ganz normal.“
Der Erwartungsdruck und auch Leistungsdruck steigen damit enorm. Und kann schlussendlich auch dazu führen, dass es zu psychischen aber auch zu körperlichen Verletzungen kommt (z.B. Fissuren, Hämatome, eingeführte Gegenstände, die Fisteln bilden, usw.). Eltern sind daher ziemlich gefordert, Pornos nicht zu ignorieren und zu tabuisieren, sondern zu relativieren. Meine Lieblingsanalogie: Pornostars sind Spitzensportler! Sie trainieren, sie dehnen, sie dopen und sie betäuben manchmal sogar ihre Geschlechtsorgane, um all das darstellen zu können. Es ist wie in Hollywood Filmen, kein Mensch sollte sein Auto im Alltag so fahren wie in „The Fast and the Furious“…
Ebenso führen Pornos zu einer Verzerrung dessen, was als schöner Körper oder auch eine schöne Vulva betrachtet wird. Die vielfältigen Erscheinungsweisen von Vulven, die alle normal und in ihrer Individualität schön sind, werden in Frage gestellt, wenn sie nicht einer gewissen „Pornoästhetik“ entsprechen. Die Auswirkungen sieht man in den steigenden Zahlen der operativen Schamlippenkorrekturen bzw. „verjüngenden Scheidenstraffungen“.
Die Zeit verfliegt, dabei hätte ich noch hunderte Fragen, die ich gerne mit Ihnen besprechen würde.
Ich hätte auch noch genug Antworten. 😉
Und ich große Lust, alle zu hören. Es war mir wirklich eine Freude! Vielen Dank für die spannenden Einblicke, Ihre Offenheit und Ihren wichtigen Beitrag in der Auseinandersetzung mit dem Thema Weiblichkeit!
Hier findet Ihr noch die Verweise auf die erwähnten Artikel, falls Ihr gerne etwas näher eintauchen wollt:
- Kirchheiner K, Fidarova E, Nout RA, Schmid MP, Sturdza A, Wiebe E, Kranz A, Polterauer S, Pötter R, Dörr W. Radiation-induced morphological changes in the vagina. Strahlenther Onkol. 2012 Nov;188(11):1010-7.
- Kirchheiner K, Czajka-Pepl A, Ponocny-Seliger E, Scharbert G, Wetzel L, Nout RA, Sturdza A, Dimopoulos JC, Dörr W, Pötter R. Posttraumatic stress disorder after high-dose-rate brachytherapy for cervical cancer with 2 fractions in 1 application under spinal/epidural anesthesia: incidence and risk factors. Int J Radiat Oncol Biol Phys. 2014 Jun 1;89(2):260-7.
- Kirchheiner K, Pötter R, Tanderup K, Lindegaard JC, Haie-Meder C, Petrič P, Mahantshetty U, Jürgenliemk-Schulz IM, Rai B, Cooper R, Dörr W, Nout RA; EMBRACE Collaborative Group. Health-Related Quality of Life in Locally Advanced Cervical Cancer Patients After Definitive Chemoradiation Therapy Including Image Guided Adaptive Brachytherapy: An Analysis From the EMBRACE Study. Int J Radiat Oncol Biol Phys. 2016 Apr 1;94(5):1088-98.
Ich greife in den Wochen nach einem Interview künftig immer Themen auf, die in diesem angesprochen wurden und für eine Auseinandersetzung mit Weiblichkeit von Interesse für Euch sein können. Für die kommenden Blog-Beiträge sind daher unter anderem die Themen Körperbild und Weiblichkeit in unterschiedlichen Kontexten geplant. Wenn Dinge angesprochen werden, die Ihr gerne näher bearbeitet hättet, teilt mir das bitte einfach mit! Dann werde ich diese – sofern Sie in meinem Kompetenzbereich liegen oder ich jemanden kenne, dessen Kompetenzbereich sie betreffen – gerne erweitert und/oder vertiefend aufbereiten.
Ich wünsche Euch eine schöne Zeit (zum Lesen;-)),
Alles Liebe,
Eure
Esther
Photo by Kathrin Kirchheiner