Oberflächlichkeit nutzen

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In meinen letzten beiden Artikeln habt Ihr bereits erfahren, dass Oberflächlichkeit für mich keineswegs allein abwertende Bedeutung „nicht in die Tiefe gehender und auf Äußerlichkeiten bedachter Auseinandersetzung mit Objekten, Personen oder Gegebenheiten“ hat. Oberflächlichkeit kann mehr bieten und ist in der psychologischen Praxis vielseitig einsetzbar. Dazu habe ich heute für Euch ein paar Gedanken und Ideen ausformuliert.

 

Definition klären

Zuallererst stellt sich die Frage, was wir überhaupt unter Oberflächlichkeit verstehen. Ich habe es mir angewöhnt, mir Begriffe von meinen Gesprächspartner*innen definieren und beschreiben zu lassen. Insbesondere wenn Begriffe nicht eindeutig sind und es dadurch leicht passieren kann, dass Gespräche aneinander vorbeilaufen. Dies gilt nicht nur für abstrakte Begriffe, sondern auch für „handfestere“, wie beispielsweise „Blumenwiese“. Die eine versteht darunter ein Feld voller Sonnenblumen, der andere einen Garten voller Klee und Gänseblümchen und wieder eine andere eine Bergwiese voller bunter Wildkräuter und -blumen.

 

Dahinterstehender Nutzen

Wenn es um oberflächlichere Themen geht, mache ich mir Gedanken darüber, ob Oberflächlichkeit einen Nutzen für meine*n Gesprächspartner*in hat: stellt sie möglicherweise einen Schutzmechanismus dar, um sich vor überwältigenden, beängstigenden oder unschönen Emotionen oder Themen zu schützen? Wird sie als Schönheits-Genussmittel eingesetzt, als Gegenteil von Tiefgründigkeit abgewertet oder ist hat sie überhaupt keinen Beigeschmack? Diese Überlegungen spreche ich zu einem passenden Zeitpunkt an und baue das Thema damit aktiv in die gemeinsame Arbeit ein.

 

Stereotype und Rollenbilder

… haben meist einen oberflächlichen Beigeschmack. Dabei spielen sie insbesondere in der Auseinandersetzung mit Weiblichkeit eine wichtige Rolle. Denn Weiblichkeit ist oft mit bestimmten oberflächlichen Stereotypen und Rollen besetzt, ohne dass es uns voll bewusst ist. Das Bewusstwerden dieser Tatsache ist ein erster Schritt in der Auseinandersetzung mit und Erschaffung einer stimmigen und positiven Definition der eigenen Weiblichkeit.

 

In Bezug auf Weiblichkeit habe ich bereits in meinem Artikel „Weiblichkeit ist…“ einen Einblick in mein Verständnis von Weiblichkeit auf drei Ebenen gegeben. Lest gerne nach, wenn Ihr die Ebenen „Denken und Sein“, „Ausdruck und Handeln“ und „Erscheinungsbild“ kurz beschrieben haben wollt. Ich arbeite am meisten in der inneren Ebene, also dem „Denken und Sein“, nehme die beiden anderen allerdings regelmäßig mit auf bzw. schließe sie mit ein. Denn dadurch erfüllt meine Arbeit meine Ansprüchen nach Ganzheitlichkeit, Alltagstauglichkeit und Bodenständigkeit.

Aktuelle Ideale und Trends

Unsere Auseinandersetzung mit Themen, mit denen sich gerade jede*r zu befassen scheint oder unsere  scheinbar unreflektierte Hingabe bezüglich aktueller Ideale wird ebenso als Oberflächlichkeit interpretiert. Hier nutze ich gerne die 5-Why-Methode aus dem QM, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Welches Bedürfnis steckt hinter unserem Wunsch, aktuellen Trends und Idealen nachzueifern oder zu entsprechen?

 

Alltagsthemen als Einblick in „das echte Leben“

Ich bin dankbar, wenn ich mit meinen Gesprächspartner*innen auch über scheinbar triviale Alltagsthemen sprechen kann, denn so bekomme ich Einblicke in „das echte Leben“ meines Gegenübers. Oberflächlichkeiten werden meist weniger „zerdacht“ und sind deshalb „roher/echter“. Solche Informationen kann ich für die gemeinsame Arbeit gut nutzen, um diese fruchtbarer zu gestalten und erwünschte Veränderungsprozesse besser in den Alltag zu integrieren. Wenn ich weiß, was meinem Gegenüber gefällt, worauf er*sie anspricht, mit welchen Sinnen Schönes erlebt wird, usw., kann ich Veränderungsprozesse genüsslicher gestalten, entsprechende Sinne einbeziehen und stimmigere Methapern und Bilder nutzen.

 

Oberfläche als wohltuendes Genussmittel…

Die Arbeit mit Oberflächlichem im Sinne von Schönem oder auch „leichten Themen“ verwende ich in der psychologischen Praxis, um weg vom Problemdenken hin zu einer Steigerung des Wohlbefindens zu kommen. Es befreit, für uns selbst wieder herauszufinden, wie wir Schönes und Leichtes im Detail und im Ganzen entdecken und für genussvolle Auszeiten nutzen. Wir lernen Dinge mit allen Sinnen erleben im Sinne einer multisensorischen Wahrnehmung, als „Achtsamkeitspraxis“.

 

…oder als Einstiegshilfe in die Tiefe

Durch Betrachtung von Oberflächlichkeiten bahnen wir uns einen Weg in die Tiefe. Welche Glaubensätze, Überzeugungen und Ängste stecken hinter der Befassung mit scheinbaren Oberflächlichkeiten? Dies betrifft meist die Arbeit mit Überzeugungen in Bezug auf unser Äußeres und unsere Wirkung auf andere.

 

Oberflächlichkeit als Eindruck in sozialen Interaktionen

In der Auseinandersetzung mit unseren Beziehungen können wir Oberflächlichkeit als Hinweisschild/Lupe nutzen. Wenn wir in Gesprächen an der Oberfläche bleiben: was sagt das über die Beziehung zu unserem aktuellen Gegenüber aus? Mit welchen Menschen fühlt sich eine Unterhaltung über Oberflächliches tiefgründig an und warum? Ich habe gerade ein Gespräch über Tee mit einer Freundin letzte Woche im Kopf. Wenn man sich gut kennt, einander vertraut und wertschätzt, sind oberflächliche Themen ebenso wohltuend und befriedigend wie tiefgründige Gespräche über berufliche und private Herausforderungen, Weltanschauungen und brisante Erkenntnisse über das eigene Wesen. Manchmal hingegen fühlen sich Gespräche zu tiefgründigen Themen so an, als würde man an der Oberfläche bleiben. Das ist oft der Fall, wenn wir mit Menschen sprechen, die uns einmal sehr nahe waren, wo die meist emotionale Verbindung allerdings irgendwie und irgendwann abhanden gekommen ist. Wenn wir das nicht wahrhaben oder nicht ansprechen wollen, kommen mitunter „oberflächlich-tiefgründige“ Gespräche zustande.

 

Oberfläche für Wirkung und Auftritt nutzen

Nicht zuletzt hat die Auseinandersetzung mit Oberfläche im Sinne des eigenen Auftritts und der Wirkung einen Einfluss darauf, wie wir gesehen, wahrgenommen und behandelt werden insbesondere in Bezug auf den ersten Eindruck. Ebenso beeinflussen sich unser Innenleben und unser Äußeres wechselseitig. Wenn wir die Beschäftigung mit unserem Äußeren nicht im Sinne einer negativ-kritischen Auseinandersetzung und Abwertung, sondern im Sinne eines Persönlichkeitsausdrucks und der Selbstfürsorge erleben, hat dies einen positiven Einfluss auf unser Wohlbefinden. Und umgekehrt: unser Äußeres ist durchaus auch ein Spiegel unserer Gesundheit.

 

Ich denke, ich könnte diese Liste zum Nutzen von Oberflächlichkeiten noch fortführen – aber die Sonne lacht mir so verlockend ins Gesicht, dass der Notebook-Bildschirm gerade seinen Reiz verliert. In diesem Sinne gibt’s jetzt noch drei kurze Selbstreflexionsfragen, und dann ist Schluss für heute.

 

  • Mit wem fühlt sich Oberflächlichkeit für Euch einfach köstlich an?
  • Welche oberflächlichen Themen oder Beschäftigungen bereichern Euren Alltag, tragen zur Steigerung Eures Wohlbefindens bei, helfen Euch beim Abschalten und bereiten sogar den Weg in einen Flow-Zustand?
  • Welcher Oberflächlichkeit würdet Ihr nach dem Lesen dieses Beitrags gerne für ein paar Minuten nachgehen?

 

Alles Liebe,

Eure

Esther

 

Photo by Jess @ Harper Sunday on Unsplash

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